Aus dem Gedichtband "Alle Wetter":
- HORRORSKOP
- IM PARK
- DIE TREPPEN DER AKADEMIE
- KEHR AUS
- WARNUNG
- FÜR DEN KAISER WERDEN DIE STERNE GEPUTZT
- VERGRÄTZUNG DES BÄREN
Geschichte:
Ich bin geboren im Sternzeichen Zwilling.
Dem späten Maikind saget man wahr: es sei leicht
Lustig flatter-
Haft voll empfindsamer Güte mit einem Hang
Zur Höflichkeit.
Darf ich vorstellen: das
Ist mein Hausmeister Schütze und das
Mein Haustier Skorpion
Ich höre schon
Wie’s Gras wächst. Maiwürfe
Graben sich von mir zu dir
Ich hab die Wiesen aufgeschüttelt doch
Du Schönster
Entblühst mit Käferinnen und Kamillen
Für Karin Kiwus
So viele Lauf- und Steigebahnen
So viele Kunst Gewerbe
Treibende Sternstunden Ganz oben
Lassen die Dichter müd von schweren Musenküssen
Auf ihre alten Tage lange Nächte los.
Die Präsidenten tragen ihre Schleppe
Ehrhaft und wehrhaft Stufen Stufen
Schleppen die Präsidenten ihre Trage
Und dort wo alles neu auf alt sich macht
Läßt PREUSSENS GLANS & KLORIA
Antreten seine kapitalen Recken.
Dir aber blühet jetzt der Wechsel
Vom Amt
Zu Würden
In der Erwartung freier Tage
Rutschst du von oben das Geländer’runter
Mit saubrer Landung auf’m Boden
Der unversäuert hohen Poesie.
Heut fahr ich in meinen Schornstein ein
Des Teufels rußige Schwester. Mein Verwalter
Die Krähe hockt mir auf der Stirn.
Ich stehe bewaffnet
Mit Schrubber und Schaufel und Feudel und fege
Die Asche aus meinen Augen. Ein Indianer
Weint nicht. Schon finde ich hinter der Flurtür
Die Gummihelden der Kindheit
Ein Kistchen, durchmischt mit Soldaten und Engeln
Des Dunkelwaldes. Ich sehe – O Arzgebirg! – eilig mich
laufen
Durch Schiefer und Schnee in die Stadt
Unter dem Wäschekorb zieh ich das blaue
Halstuch hervor: Mottenfraß an den Zipfeln
Für Frie n und So mus sei b reit!
Und ich geh auf die Knie wo die Fussel und Flusen
Mich kitzeln Ich schwinge den Besen Das Tier
Witscht in die Stube hinter das Sofa wo die Tapete
In Spinnenhäuten erblüht.
Ich hole hervor: Krümel und Korken und Opas hölzernen
Schuh
Und die Knospen von Zöpfen und Knöpfe und endlich
Nach Jahren gefunden! Jonas
Der dem Aquarium entsprang: nun
Eine Mumie mit bröckelndem Schwert.
Hin pfatsch ich den Hader und wische was weg muß.
Maulaffen hör ich zwischen den Schränken
Mir meine Zeugnisse lesen.
Die Geister der Onkel und Tanten und Torten
Treten mir auf die Finger.
Ich rücke die Möbel die bestienfüßigen Tische
Da liegt ein Skalpell und eine Ampulle voll Schlaf
Für Frau Puppendoktor Pille mit der großen blöden
Brille.
Die Träume von der Bande der Rächer
Die dem Milchmann Maden aufstecken und dem Heizer
Die Lichter ausblies.
Jetzt hinter die Bücherregale geschaut
Wo Wollmäuse sich mit Göttern verbeißen:
Der Neger von Kleist, Woyzeck und Faust
Hoffmanns Gespenster, die lyrischen Teufel,
schaufeln voll Kehricht
und Goethe und Schiller der ganze Heilige
Bimbam.
Ich hebe die lockeren Dielen
Was treibt mich zu suchenwonach
Nichts Wertvolles weiß ich verloren, vielleicht
Der Donnerkeil von Wladiwostok
Da ist er! Ich bind ihn mir um und ich höre
Großvaters Knöchelchen klopfen am Hals
Hoch geht der Teppich als ließen die Jahre
Gas ab. Ich finde noch Fahrscheine
Chemnitz – Karl-Marx-Stadt hin und zurück
Und Asseln und goldene Würmer und einen Apfel
Vergiftete und Käferkot, Klammern, entzündete Kerzen
Auf reiß ich das Fenster. Die Krähe
Entwischt meiner Stirn. Gut lüften! schreit sie und schreit
Daß mit der Kopf pfeift
Wie früher der Kessel
Vom Herd.
Auf meinem Dachboden der Kauz
Hat die alten Bücher beschissen:
Großvaters U-Boot-Romane, Gedichte der Königsmacher
Der Mädelzeit schöne Schwarten, ach
Warum habe ich Mäuse gefüttert
Mit langlebigem Gift und der Kauz
Warum hat er die Mäuse gefressen
Kann er nicht lesen
Für den Kaiser werden die Sterne geputzt. Höflinge
Von Rom bis Jerusalem eilen und wichsen
Die Strahlen daß ihr klirrendes Licht
Abwirft
Einen Schein für den Vierfürsten Antipas
Daß er bleibe und leuchte und Tafeln errichte
Bankette von Rang und höchstem Hurra
Mit Tombola Trüffeln und Tanz, wo eine Zeit
Springt auf die andere – Schwager auf Schwägerin
Onkel auf Nichte auf
Günstling auf Beinesteller Kaiser auf Fürst
Vor dieser Tapete
Bespringt s i e die Mitte des Saals
Lüpft Brusttüchlein Rock das Plissee
Ihres Herzens für den Fürsten
Hat sie ihre Füße gewaschen die brave
Stieftochter tanzt daß in flirrendem Licht
Sie ihre Nummer hinwirft vor Antipapa
Dem das Schöne sich wegkrümmt und Aufsitzt den verzährenden Augen
Eine Lust wie wenn alles
Man hinschenken könnte: die Sterne das Volk das halbe
Reich sogar, was sie will! nur
Tanzen
Muß sie vor den verjährenden Augen der Gäste
Bis ihr die Mutter flüstert: das wäre doch was!
xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxDas
abgeschlagene
Haupt vom Kerl der wilden Honig und Heuschrecken frißt
Der ein Gewand aus Kamelhaar trägt, die Menschen Zur Umkehr aufruft,
der weiß was Kommt. Und es kommt Der Diener mit einem Tablett Trüffeln
Tanzbein und Blutkopf. Für den Kaiser Putzen sich die Sterne heraus
Lange noch Bis sie hinströmen als eisiger Fluß
Alle Mann hinterher
Seit Wochen schon geht
Wieder der Bär um der braune Gesell
Aus uralischen Wäldern kommend
Auf sein altes Terrain.
Packt ihn der Hunger, zupft er
Beeren sich ab, nimmt manchmal dem Wanderer
Kuchen und Wein aus dem Korb oder
Er reißt am Rande des Dorfs
Das sanftmütige Lamm.
Die Bürger von Ury, Tury und Schlury
Halten Ratssitzung ab: wie man
Sich des Bären entledige ohne den Bären
Zu töten.
Seit Wochen nun gehen
Die Leute im Wald um
Mit Radios und Rasseln und Tuten und Kreischen und
Alphorngestöß bis
Sich der Bär die Tatzen zerbeißt und die Ohren
Bluten und er fortwankt woher
Er gekommen und das
Weiß der Herrgott allein
Agatas Wohnstube atmet aus.
Nacht ist es. Agata hat das Fenster aufgerissen. Sie setzt sich auf den roten
Hocker und wünscht sich nur eines: zu widerstehen. Sie schließt die Augen,
wie jeden Tag, krallt sich ans Polster und sagt:
„Heute öffne ich nicht die Tür.“
Agata wartet. Warm ist es. Die Luft steht von späten Düften. Vielleicht
kommt er ja heute nicht, hofft Agata. Sie schickt einen Blick durchs Zimmer,
der im Schnellflug die Farben der Welt streift. Sie riecht, was an Düften je
geschaffen worden war. In diesem Augenblick klingelt es.
Agata widersteht.
Sie hat alles. Sie kennt jedes Stück. Was will er denn noch.
Es klingelt abermals.
„Geh“, flüstert Agata.
Dann erhebt sie sich vom Hocker, wie jeden Tag. Dann tut sie drei Schritte
zur Tür. Während sie noch hofft, sich endlich anders entscheiden zu können,
öffnet sie.
Der ihr die Blumen schenkt, ist ihr Liebster.
„Mio“, sagt sie, „ich will nicht mehr.“
Da hat Agata schon etwas in der Hand: ein duftendes leuchtendes
Nachtkerzengewächs. Mio drückt sich zur Tür hinein und befiehlt:
„Los!“
Er leuchtet ihr den Weg. Wie immer. Wie jeden Tag. Er weiß, daß Agata
Blumen liebt.
Er mußte sie ihr alle bringen: Rosen, Chrysanthemen, Astern, Efeu, Gummi-
und Goethebaum und all die gewöhnlichen Wohnzimmergewächse, bis sie
genug davon hatte und mehr wollte: größere, schönere, fremdere. Mio, der die
Frau liebt wie nichts sonst auf der Welt, hat ihr immer alles gebracht.
Er, Mio Lobenthal: Kenner der Lüste.
Er, der stellvertretende Geschäftsführer des Botanischen Gartens.
Mio leuchtet Agata den Weg. Und er folgt ihr. Die Dielen knirschen.
„Geh“, fleht Agata, und Mio antwortet leise:
„Wie du willst, meine Orchidee.“
Er geht und geht doch nicht, und Agate setzt sich auf die Couch. Ein
schillerndes Insekt stößt sich am Schirm der Stehlampe. Vom Teppich steigt süßer Nebel.
Links neben dem Sofa ein kleiner moosiger Felsen und ein
Zimmerspringbrunnen. Ich muß weg, denkt Agata, sonst macht er mich heute
noch fertig. Sie erhebt sich vom Sofa und tritt durch Farne und Palmen.
„Du findest mich heute nicht wieder!“ sagt sie laut und geht in Büsche von
Jasmin und Mannstreu. Philodendron durchdringt sie, Anthurien und
Schachtelhalm. Fiscusbäume säumen den kurzen Weg vom Wohn- zum
Schlafzimmer. Agata preßt die Hände vor den Mund. Es ist überwältigend.
Wie jeden Tag. So blühend üppig ist ihre Wohnung, daß sie vor Freude
weinen muß. Sie setzt sich an den Rand eines kissengroßen Moores.
Sumpfiges Fettkraut kriecht über ihren Schoß. Die flachen, lappenartigen
Blätter bedrängen sie.
Sie hatte sich alles so gewünscht. Und jetzt hat sie genug.
Da erblickt sie etwas neues, eine Pflanze, die Mio erst heute herangeschafft
haben mußte: armhoch, lachsrosa vom Stengel bis zur Blüte. Aus dem Kelch
ragt ein doppelt daumendicker Stempel derselben Farbe. Agata muß schlucken.
„Amorphophallus bulbite“, stellt sich die Pflanze vor.
„Laß das!“ ruft Agata und drängt sich weiter durch die Gewächse. Unter den
Fächerblättern der Nypapalme, die bis zur Decke reicht, hält sie inne.
Schweißnaß ist Agata. Setzt sich auf den Boden. Da sieht sie: Mio Lobentahl
hockt im Bambus. Nach Affenart hält er sich festgeklammert und winkt.
Agata ist starr vor Schrecken. Mio rutscht den fasrigen Pflanzenschaft
herunter, vor Agatas Füße.
„Da bin ich wieder.“
Agata weiß jetzt, was sie tun muß. Nicht Verstecken bedeutet Rettung,
sondern Kampf. Mit der Kraft einer Machete schneidet ihre Handkante das
schwertscharfe Blatt eines Pandanus. Agata schwingt es über dem Kopf. Mio
duckt sich, springt zur Seite. Das Schwert köpft Betelpalme und Monstera,
Banane und Eukalyptus. Mio erklettert einen schlanken Kautschuk, der links
neben der Schlafzimmertür steht. Er hatte ihn gestern der Liebsten geschenkt.
Agatas Schwert pfeift durch die Luft, trifft erst die Bücherkommode, dann
den Kautschuk. Mio greift nach den Luftwurzeln der Tillandsia, die sich wie
Medusenarme von der Kommode ins Zimmer ergießen. An ihnen schwingt er
sich herunter, und Agata steht vor ihm.
„Komm“, keucht sie.
Vor den Hieben des Pandanusschwertes schützt sich Mio mit einem
Blattschild vom Großen Tropenwurz. Agatas Kraft schwindet. Mio hat sie.
„Liebe!“ ruft er und stürzt sich auf sie.
Er, der stellvertretende Geschäftsführer des Botanischen Gartens.
Agata flieht ins Schlafzimmer. Mio, schneller als sie, schwingt sich von den
am Türrrahmen festgewachsenen grauen Gespinsten des Greisenbartes, auch
Spanisches Moos genannt. Er stößt einen Schrei aus und springt Agata an. Sie
fallen aufs Bett.
Zuerst riecht sie Zimt. Der Kardamomstrauch wächst unter der Matratze
hervor. Vor Agatas Füßen strecken hellgrüne Kobrapflanzen ihre
Schlauchblattzungen aus. Mio streift Agata die Hausschuhe ab. Die
Kobrapflanzen lecken an ihren Zehen. Agata muß kichern, dann weinen,
danach gähnen. Der Kardamom überduftet den Zimtbaum. Fenchel
den Kardamom. Wie Abrißbirnen hängen Wachskürbisse vom Wäscheschrank.
Auf dem Fenstersims blüht gelber Oleander. Danaben, in schönen lila Blüten,
der berauschende Strophantus. Mio läßt die Finger kurz von seiner Orchidee
und pflückt von den Büschen, die er seit Wochen in Kübeln neben das Bett
gepflanzt hat, eine Handvoll Köstlichkeiten: die roten Beeren der Palisode,
Kümmel, süße Cayennekirschen, die grünen Früchte der sauren Aubergine,
die Feuerköpfchen des Chili, Beeren vom Seidelbast und Buchsbaum. Zuletzt
bricht er eine kleine Ananas. Er teilt die Beute mit Agata.
Mio nimmt ein Chilischötchen zwischen die Lippen, nähert sich dem Mund
der Frau. Sie teilen sich die Frucht, indem sie, Lippe an Lippe, davon
abbeißen. Das Feuer wird von milderen Beeren gedämpft. Sie wirken schnell.
Von allen Säften, Wurzeln und Blüten nascht Agata.
Obwohl sie genug hat.
Von Mio, dem stellvertretenden Geschäftsführer des Botanischen Gartens.
Von Mio, dem Kenner der Gifte.
Er schiebt ihr Oleanderblüten auf die Zunge. Gehorsam schluckt Agata. Sie
fühlt sich leicht, ausgehöhlt wie eine Schwammgurke. Vergißt, daß sie genug
hat. Sie legt sich in das Bett, und Mio kippt einen Schwall grauweißer
Begonienblätter über ihr aus. Agata will einschlafen, aber Mio will keinen
Schlaf. Er gibt ihr Pfeffer zu essen: grünen, schwarzen, weißen, roten. Der
hält Agata munter.
„Ich hab noch mehr für dich“, flüstert Mio.
„Ich sterbe“, beschließt Agata und schließ die Augen.
Mio läßt die Pflanze aufsteigen. Als wüchse sie aus der Matraze empor: eine
blühende Agave. So groß wie er selbst. Der Glanz der bunten Stempel
irritiert Agata. Sie muß die Augen öffnen.
„Sie blüht nur heute“, sagt Mio.
„Scheusal!“ ruft Agata, springt vom Bett auf, stürzt zur Blumenbank am
Fenster, bricht mit bloßen Händen einen armdicken Säulenkaktus und
schleudert ihn dem Manne entgegen. Gerade noch kann Mio zur Seite
ausweichen. Er nimmt den prächtigen Goldkugelkaktus, der auf
dem Nachttischchen steht, und stößt ihn Richtung Agata. Die pfeilspitzen Stacheln
bohren sich neben sie in die Tapete. Mio nähert sich Agata jetzt mit wunden
Händen. Nimmt sie in den Arm, drückt sie nieder.
Eien Stunde später ist die Agave verblüht, der Schaft schlaff geknickt und die
einst saftigen grünen Blätter verwelkt.
Mio Lobenthal ist verschwunden.
„Komm wieder“, hört sich Agata sagen.
Eine dunkle Stimme antwortet:
„Ich habe keine Lust mehr.“
„Mio?“ fragt Agata, aber Mio spricht nicht mehr. Es sprechen die Gewächse,
die er ihr geschenkt hat, Tag für Tag: Blumen Sträucher Bäume Kakteen –
das halbe Arsenal des Botanischen Gartens. Agata hat Durst. Durst ist stärker
als Liebe, weiß sie und geht in die Küche.
Hymenandra, die Kannenpflanze, lockt Agata.
„Komm“, sagt sie.
Agata hebt den Blattdeckel der wasserkannengroßen Blume und schaut in ihr
Inneres. Riecht roten Wein. Süß und lau.
„Trink und vergiß ihn“, sagt Hymenandra.
Agata steckt ihren Kopf in die offene Pflanze. Auf der roten wachsglatten
Gleitzone rutscht Agata ab. Sie will sich halten, gleitet am
honigdrüsenbesetzten Kelchinneren herunter. Dann fällt sie kopfüber
auf den
Grund. Bis zum Hals steckt Agata im süßen Wein der Kannenblume. Agata
schluckt. Die Pflanze auch. Agata spürt den Muskel um ihre Kehle. Sie will
widerstehen. Der Muskel umschließt Wangen, Stirn und Haar.
Dann atmet Agata zum letzten mal aus.
2005